Über Figurentypen in Roman & Drehbuch
- Christoph Fromm
- 4. Juni
- 2 Min. Lesezeit

Spannende Charaktere sind das Fundament für jedes gute Drehbuch. Anders als im Roman, wo man bereits durch die Beschreibung einer interessanten, albtraumartigen Atmosphäre mit schemenhaften Figuren operieren kann, wie das Franz Kafka bereits vor über hundert Jahren gemacht hat, funktioniert das im Film nur in Kombination mit vielschichtigen, ambivalenten Charakteren. Möglicherweise ist deshalb Kafka nie wirklich gut verfilmt worden. Gerade ein atmosphärischer Film wie Short Cuts von Robert Altmann funktioniert nur über seine vielschichtigen Figuren. Man fragt sich deshalb, warum das sogenannte „charakter-driven-writing“, das bereits Shakespeare in vollendeter Form praktiziert hat, etwas aus der Mode geraten zu sein scheint?
Ich fürchte es hat damit zu tun, dass man ästhetische Kriterien durch moralische Vollkommenheit ersetzt hat. Das aber ist in der Kunst tödlich. Jeder spannende Charakter funktioniert einzig und allein über Ambivalenz, das heißt, er muss sympathische und unsympathische Eigenschaften besitzen, Stärken und Schwächen. Wie aber modelliere ich einen spannenden Charakter?
Einen spannenden Charakter finde ich zunächst in der Realität. Gründliche Recherche mit real existierenden Figuren sind der Anfang, sozusagen die Knetmasse, aus der ich die Filmfigur später forme. Hier ist natürlich nicht jede Realvorlage gleich gut geeignet. Es kommt darauf an, den für mich interessanten Polizisten, die spannende Ärztin, die abgründige Lehrerin etc. zu finden und sie zum Erzählen zu bringen. Dazu benötige ich einen Fragenkatalog, der weit über die sechs Charakakterfragen hinausgeht, die Laurie Hustler entwickelt hat. Aber eine ihrer Fragen ist von zentraler Bedeutung: Die Frage nach der größten Angst der Figur!
Die Figur mit genau dieser Angst zu konfrontieren, sie sie überwinden oder scheitern zu lassen, sorgt automatisch für An-Spannung in der Figur und damit auch der Geschichte.
Wir sehen dieses Vorgehen zum Beispiel in einem Film wie Casino von Scorsese. Abe/de Niro, der mit all seinen Fertigkeiten versucht, das Risiko des Glückspiels in den Griff zu bekommen, scheitert daran, seine Frau/Sharon Stone kontrollieren zu können. Solche Dramaturgien sind intelligent und sie finden jenseits von Gut und Böse statt. Bereits Shakespeare wusste, wie man auf intelligente Art und Weise ambivalente Figuren zeichnet. Er hat sich sogar getraut, mit Richard III einen ausgemachten Schurken als Hauptfigur zu etablieren. Angelsächsische Autor_innen nehmen bis zum heutigen Tag Shakespeare immer wieder als Vorlage: Man denke nur an Succession, einer modernen Variante von King Lear.
Nun, weder Shakespeare noch Scorsese hätten einen einzigen ihrer Stoffe durch die deutsche Filmförderung, geschweige denn durch deutsche Fernsehredaktionen gebracht. Und solange sich das nicht ändert, werden wir weiterhin moralisierende, bedeutungslose Filme machen.
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