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Amoklauf - Der Wutbürger

"Wenn du das Leben begreifen willst, glaube nicht, was man sagt und was man schreibt, sondern beobachte selbst und denke nach." - Anton Tschechow


Ich habe Tschechows Rat beherzigt und jahrelang beobachtet, bevor ich "Amoklauf im Paradies" geschrieben habe. Und er hat recht. Man kann nur über etwas schreiben, was man wirklich gut kennt. Gleichzeitig ist sein Ratschlag für jeden Schriftsteller ein unangenehmes Paradox, legt er doch nahe, nicht zu lesen, sondern lieber selbst zu beobachten. Ich kann nur den Kompromiss empfehlen, den ich selbst viele Jahre gelebt habe: Gute Bücher zu lesen und gleichzeitig das Leben eigenständig und genau zu beobachten.


Ich habe mir drei Jahre Zeit gelassen, nur um zu beobachten, bevor ich "Amoklauf im Paradies" begonnen habe. Das kann man sich natürlich nicht leisten, wenn man mit einem Buch Geld verdienen will, aber vielleicht braucht es eben auch wieder die Werke, die nicht in erster Linie geschrieben werden, um Geld zu verdienen, sondern weil der Autor in sich das Verlangen spürt, etwas auf seine ganz spezielle Art und Weise zu beschreiben. Das Leben ist ja tatsächlich so vielschichtig und ambivalent, nimmt die eigentümlichsten Wendungen und hält so viele Überraschungen bereit, dass man es nur durch genaueste Beobachtung erfassen kann - und selbst dann bleibt das Geschriebene, Gemalte, Fotografierte, Gefilmte immer nur ein fokussierter Spiegel, der die subjektive Perspektive des Beobachters erzählt. Man kann diesem Problem mit multiperspektivischem Erzählen begegnen, man kann aus guten Gründen auch den Standpunkt vertreten, dass im Glücksfall gerade die subjektive Perspektive für Qualität sorgt, entscheidend für ein gutes Ergebnis - wie abstrakt, abgehoben, stilisiert es am Ende auch sein mag - ist immer der Respekt vor der Realität. Natürlich wird jeder Autor schnell feststellen, dass eine möglichst genaue Beschreibung der Realität schnell ermüdend wirkt. Das gilt insbesondere für den Dialog. Bestimmte Kunstgriffe wie eine interessante Haltung der Figuren zueinander, ein überzeugender Konflikt, ein künstlich forciertes Verschweigen, ein aneinander Vorbeireden, sich Illusionen hingeben etc. sind nötig, um einen guten Dialog zu schreiben. Aber auch hier gilt: Es ist in der Realität eigentlich alles vorhanden. Man muss es nur finden, dramatisieren und montieren. Klingt ganz einfach, ist aber bei jeder Geschichte eine neue Herausforderung.


Beim Amoklauf war mir wichtig - und es entsprach im Übrigen der Realität -, dass die Hauptfigur nicht dem platten Pegida-Klischee entsprach. Die Wut, die Aggression, die Verzweiflung, weil jemandem die sozialen Sicherheiten wegbrechen, äußern sich häufig zunächst scheinbar unpolitisch. Aber die Art und Weise, wie jemand seinen Alltag verändert, erzählen mehr als ein Kreuz bei einer rechtspopulistischen Partei. Zum Beispiel, wie er mit Frauen umgeht. Hier spiegeln sich die Versagensängste häufig am deutlichsten. Die Realität bot mir viele schöne Details, was die Ehefrau anging; bei der Tochter fehlte etwas Grundlegendes, um die Zwänge und Ängste des Vaters zu spiegeln. Ich erfand schließlich die gerade überstandene Alkoholsucht, auch weil ich das Beispiel von einer anderen Person aus der Realität kannte. Dort hatte es ein tragisches Ende genommen, das zur Tonlage meines Romans nicht passte, und so besitzt Nadja am Ende nicht das nötige Maß an Verzweiflung, sondern sie hat das Glück, im entscheidenden Moment auf Bengt zu treffen, der ihr auf seine ganz spezielle Art und Weise hilft. Bengt ist ebenfalls eine Figur, die ich seit vielen Jahren gut kenne, und ich gebe zu, es hat sehr viel Spaß gemacht, ihn zu schreiben. Anders als Erwin wäre Bengt nie gefährdet, zum rechtspopulistischen Wutbürger zu mutieren. Warum? Weil er keine Angst kennt, weil er in sich ruht, weil er mit dem Leben zufrieden ist, das er führt, und nicht zuletzt, weil er den nötigen Egoismus besitzt, sich die Freiheiten zu nehmen, die er braucht.


In Schweden gibt es - noch - den Raum und das finanzielle Fundament, um seine individuellen Wünsche auszuleben, wenn man den Mut dazu besitzt. In Deutschland sind einem Großteil des Kleinbürgertums die sozialen Sicherheiten weggebrochen und damit auch die Identität. Natürlich geht es nicht alleine um Geld. Es geht um Würde, um Selbstbewusstsein, das Gefühl, etwas darzustellen und gebraucht zu werden. Nicht umsonst führt Erwin seine verzweifelte Suche in die Natur. Dort könnte eventuell eine Lösung liegen, aber nur, wenn wir zunächst einmal alles an uns in Frage stellen und unsere gesamte Gesellschaft von Grund auf überdenken.




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