Es wurden in den letzten Jahren so viele Preise zu Unrecht vergeben, dass es eine Freude ist, auf die diesjährige Trägerin des Literaturnobelpreises hinzuweisen: Die Südkoreanerin Han Kang hat diese Auszeichnung wirklich verdient.
Sie beschreibt mit sehr genauem Blick die psychischen Abgründe, die in sogenannten alltäglichen Figuren verborgen liegen, so zum Beispiel in ihrem Buch „Die Vegetarierin“. Man sollte sich durch den Titel nicht täuschen lassen, es geht keineswegs um die Vor- oder Nachteile einer vegetarischen Ernährung.
Hauptfigur Yeong-Hye als Opfer von physischen Traumata
Bei der Hauptfigur Yeong-Hye wird die Weigerung, weiter Fleisch zu essen durch Albträume ausgelöst die in ihrer Kindheit begründet liegen, unter anderem durch die Gewalt, die sie durch ihren Vater erfahren hat und die sich konsequent in neuer Gewalt fortsetzt, die sie durch ihren Ehemann erfährt. Und auch ihre Schwester, scheinbar eine Erfolgsfrau, muss sich am Ende des Buchs eingestehen, dass ihr Leben nur eine Flucht vor jenen Abgründen war, die ebenso in ihr wie in ihrer Schwester verborgen liegen.
Die Kunst des wertfreien und damit authentischen Schreibens
Das Herausragende an dem Roman ist, dass er nicht wertet, sondern nüchtern und klar beschreibt. Han Kang verurteilt nie, sie ergeht sich auch nicht in kleinbürgerlich moralischen Wertungen. Es gibt keine Rettung für Yeong-Hye, auch nicht mit moderner Medizin, aber das ist eben Teil des Lebens, ebenso wie Gewalt und Selbstzerstörung. Han Kang akzeptiert die dunklen Seiten der menschlichen Seele und ist erst dadurch in der Lage, sie interessant und spannend zu beschreiben, eine Haltung, die sich auch in vielen asiatischen Filmen wiederfindet.
Die Sehnsucht nach einer Selbstauflösung in der Natur
Sie scheut sich nicht, die Selbstzerstörung mit Sinnlichkeit und Kunst zu verbinden, eine Haltung, für die sie als deutsche Künstlerin mit Sicherheit stark kritisiert würde.
Die Revolte von Yeong-Hye, kein Fleisch mehr zu essen, führt nicht zum Erfolg, zur Gesundung, sondern ist Beginn einer Selbstauflösung, einer radikalen Sehnsucht sich mit der Natur zu verbinden, zum Baum, zur Pflanze zu mutieren, die an das „Nirvana“ des Buddhismus erinnert. In der deutschen Mythologie muss man bis ins Germanische zurückgehen, um Bilder von Odin zu finden, der sich in den Weltenbaum „Yggdrasil“ hängt, um Selbsterkenntnis zu erlangen.
Die Hauptfigur von Han Kang, Yeong-Hye, erlangt jedoch keine Selbsterkenntnis: Sie löst sich auf. Und vielleicht ist sie damit von Odins Selbsterkenntnis im Weltenbaum gar nicht so weit entfernt; dem Gesetz vom ewigen Werden und Vergehen, selbst jenem der Götter.
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