
Die Menschen haben sich nie gern mit der Wirklichkeit begnügt – besonders nicht in schweren Zeiten. Es scheint damals wie heute eine Überlebensstrategie zu sein, sich größer, besser, stärker zu machen als man war. Eine gefährliche Gratwanderung, denn wer die Realität zu sehr aus den Augen verliert, droht abzustürzen, aber möglicherweise war auch der Absturz Teil des Programms. Dazu später mehr.
Zentral im germanischen Mythos ist die Figur von Odin, laut C.G. Jung ein Archetyp des rastlosen Wanderers. Odin lässt sich in drei Formen unterteilen:
Die erste Form ist tatsächlich der rastlose Wanderer, hier trägt der Gott menschliche Züge, das heißt, jeder Mensch kann auch Odin sein. Das finde ich hochinteressant und habe mich deswegen in meiner THOR-Dystopie eingehend mit der Frage beschäftigt: Was geht in der Psyche eines Menschen vor, der von sich glaubt, ein Gott zu sein, oder zumindest götterähnliche Eigenschaften zu besitzen?
Die zweite Form zeigt Odins Geist. Das beinhaltet Inspiration in Kunst und Poesie. In diesem Zusammenhang wird Odin oft mit „Wut“, „Geist“, „Ekstase“ übersetzt.
Ekstase bedeutet, „außerhalb seiner selbst stehen“. Dieser Zustand kann durch Rausch, Drogen, Schmerz, Krankheit, Einwirkung von Gewalt entstehen.
Geist ist hier nicht gleichzusetzen mit Verstand, er ist nichts Rationales, sondern speist sich aus unterbewussten, triebhaften Kräften. Für die Germanen war Inspiration nicht rational herstellbar.
In der dritten Form ist Odin König der Götter. Es ist die transzendentale Form. Odin ist hier nicht weniger als Quelle und Ursache des Lebens, also eine Kraft, keine Person. Diese Dreifaltigkeit ist viel älter als das Christentum. Es gibt sich auch in zahlreichen anderen Religionen, zum Beispiel der keltischen. Möglicherweise geht sie auf die ursprünglich drei Jahreszeiten zurück: Frühling, Sommer, Herbst und Winter wurden als eine Jahreszeit, die der Vergänglichkeit, des Sterbens und ab der Wintersonnwende, der Wiederauferstehung gesehen.
Odin war eine sehr komplexe Gottheit, sowohl Kraft als auch Person, und in den persönlichen Erscheinungen sehr wandelbar. Die nordische Welt besteht aus zwei Teilen: Feuer (Muspelheim) und Eis (Niflheim). Die international berühmte Welt von „Game of Thrones“ beispielsweise ist nicht nur im Titel von diesem Gegensatz inspiriert. Und die Nibelungen (abgeleitet von Niflheim) sind mit ihren nebelhaften, dem Untergang geradezu lustvoll entgegenschreitenden Gestalten nahe Verwandte von Odin und seinen Getreuen, die ebenso vergeblich gegen den Weltuntergang kämpfen wie die Nibelungen gegen Kriemhild, die erbarmungslose Rachegöttin. Odin bewirtet in Walhalla die Helden, die die Walküren (Todesbotinnen) für ihn vom Schlachtfeld holen. Mit ihnen trinkt und kämpft Odin gegen den Weltuntergang – und verliert! Die germanischen Stämme konnten zu Zeiten der Völkerwanderung also offensichtlich nicht einmal mehr an ein positives Ende ihrer Götter glauben. Sie entwickelten daraus die heroische Haltung: Man kämpft, obwohl man weiß, dass man verliert.
Diese Haltung fand ich so interessant, dass ich sie abgewandelt zur Grundhaltung meines Helden CEE in der THOR-Dystopie machte: Man liebt, obwohl man weiß, dass diese Liebe enttäuscht wird. So wie man lebt, obwohl man weiß, dass man sterben wird. Dieses „obwohl“ ist für viele, wichtigen Taten in der Geschichte verantwortlich, völkerübergreifend, es steht zum Beispiel auch für den deutschen Widerstandskämpfer Henning von Tresckow.
Zu Odin gehört auch das Streben nach Weisheit. Dafür opfert er ein Auge. Seine Raben Hugin und Munin stehen für „Gedanke“ und „Erinnerung“. Weisheit definiert sich hier als Erfindung, Kreativität und als Lehre, die man aus der Vergangenheit zieht. Odin besitzt außerdem den Zwergenring Draupnir, er reitet das achtbeinige Ross Sleipnir und er besitzt einen Wunschmantel, mit dem er sich sowohl verwandeln als auch unsichtbar machen kann.
Alles Motive, die uns in der Nibelungensage wiederbegegnen. Interessanterweise besitzt Odin kein Schwert, sondern einen unfehlbaren Speer; Gungnir. Mit einem solchen Speer tötet der einäugige Hagen auch Siegfried. Odins Accessoires werden sowohl an den menschlichen Hagen als auch an den übermenschlichen Siegfried verteilt, der wie ein Halbgott zu den Nibelungen kommt und die bis dahin unbesiegbare Walküre Brunhild bezwingt, im Grunde vergewaltigt und bricht. Hagen rächt Brunhild mit List und Tücke, er trifft den Halbgott Siegfried an seiner einzigen verletzlichen Stelle, Siegfried stirbt, aber er verflucht das Volk der Nibelungen, das daraufhin dem Untergang geweiht ist.
Die Vollstreckerin ist eine junge Frau, Kriemhild, die sich durch den Verlust ihres Gatten Siegfried zur rasenden Erinnye entwickelt. Faszinierend finde ich bis heute an der Nibelungensage, wie sich menschliche und göttliche Eigenschaften immer wieder mischen, sodass der Untergang der Nibelungen zu einer starken Metapher für die Götterdämmerung wird.
In meiner THOR-Dystopie versuche ich, diese uralten Motive in tiefenpsychologische Bereiche meiner Figuren zu übertragen, etwa den Drachenmythos. Ich fände es aber zu einfach, diese Motive Eins zu Eins in meine Geschichte zu übertragen, sondern suche immer nach einer intelligenten Übersetzung. Ich hoffe, damit konnte ich euch neugierig machen auf mein am 19.02. erscheinendes Buch THOR UND DER GOTT DES WASSERS.
Bereits jetzt vorbestellbar unter https://www.buecher.de/artikel/buch/thor-und-der-gott-des-wassers/72520704/
Comentarios