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Gedanken eines ehemaligen Drehbuchautors zur Netflix-Serie „Adolescence“


‘80% der Mädchen stehen auf 20% der Jungs‘ - mit dieser perfiden Aussage ködert eine Internetplattform in der Netflix-Serie “Adolescence“ den 13-jährigen Jamie Miller und macht ihn zusammen mit Gleichaltrigen zu einem Jünger der Incel-Bewegung („involuntary celibate“ bedeutet „unfreiwillig zölibatär“, die Bewegung predigt einen extremen und vermeintlich „legitimen“ Frauenhass). Zu Beginn der Serie versucht Jamie zunächst, sich einem Mädchen zu nähern, das so wie er gemobbt wird und das er interessant findet. Er erhofft sich Verständnis, doch sie weist ihn verachtungsvoll ab. Das erträgt Jamie nicht und er tötet sie auf brutale Art mit sieben Messerstichen.

 

Die Miniserie ist äußerst intensiv, was für mich weniger an der One-Shot- Technik liegt als an den hervorragenden Schauspielern und den gut geschriebenen, authentisch wirkenden Verhörszenen. Jamie wirkt zunächst so harmlos, dass man ihm die Tat eigentlich kaum zutraut. Im Verhör offenbaren sich dann seine psychopathischen Seiten: Er fühlt sich verachtet, auch vom Vater als Versager eingestuft, er kann den „männlichen“ Idealen (stark, sportlich, selbstbewusst) nicht entsprechen und das scheint, verbunden mit einer Vereinsamung vor dem Computer mit frauenfeindlichen Inhalten, zu genügen, um ihn ausrasten zu lassen.

 

Natürlich bestärkt eine solche Geschichte zunächst all diejenigen, die nach Handy- und Computerverboten für Jugendliche rufen. Im Grundschulalter ist das sicherlich sinnvoll, aber spätestens ab zwölf lässt sich der Medienkonsum heutzutage nicht mehr kontrollieren. Ein rigoroses Verbot ab diesem Alter führt nur dazu, dass sich die Kinder die entsprechenden Geräte selbst besorgen und, noch schlimmer, zu einem massiven Vertrauensverlust gegenüber den Eltern.

 

Es bleibt Eltern eben nicht erspart, sich intensiv mit ihren Kindern auseinanderzusetzen, auch kontrovers. Und leider gibt es viele Anzeichen dafür, dass man das sachliche, kontroverse Diskutieren verlernt hat, gerade auch über emotionale Themen. Man hat das überkommene Männerbild aus guten Gründen hinterfragt, doch man hat es nie durch ein neues, modernes, vernünftiges ersetzt.

Herausgekommen sind in vielen Fällen, mit Verlaub, erbärmliche Feiglinge, die in der Schule und im Beruf kuschen, sich per SMS trennen, bei Konflikten zu ihrer Mutter flüchten, Trennungen in Präsenz, wenn überhaupt, nur in Anwesenheit der eigenen Eltern durchstehen. Das sind leider keine Extrembeispiele. Der Mangel alternativer Männerbilder hat meiner Meinung nach zum Identitätsverlust einer ganzen Generation geführt.

 

Vielleicht sollte man weniger von unterschiedlichen Geschlechterrollen ausgehen als von den unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen bei jedem Individuum. Jeder trägt sogenannte männliche und weibliche Persönlichkeitsanteile in sich, gleichgültig welches biologische Geschlecht er besitzt. Egal, ob Frau, Mann oder divers, jeder sollte den Mut und das Selbstbewusstsein besitzen, zu sich selbst zu stehen.

 

Ich selbst war nie ein äußerlich attraktiver Mann und mir wurde in meiner Jugend häufig gesagt, ich sei hässlich. Trotzdem habe ich einen Weg gefunden, mein Leben zu meistern.  Für mich war Sport in dieser Hinsicht sehr wichtig, gepaart mit dem Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, was ich auch in meinem Beruf, zumindest als Schriftsteller, gut ausleben konnte. Für andere sind andere Wege richtig. Es ist die Aufgabe von Eltern, Lehrern, Freunden, einem Kind Wege zu zeigen und es zu begleiten, ohne es zu bevormunden und so einem Extremismus, wie man ihn in „Adolescence“ sieht, möglichst effektiv vorbeugen kann.

 
 
 

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