Wenn man in diesen Tagen so manchen Politiker*innen und Expert*innen in Talkshows zuhört, könnte man den Eindruck gewinnen, es bestehe noch immer ein Patt zwischen der Ukraine und Russland - und wenn man der Ukraine nur endlich die richtigen Waffen gäbe, könnte sie Russland schlagen und Selenskyjs Siegesplan Wirklichkeit werden. Offensichtlich sind all diese Leute unbeleckt von der Realität an der Front: Die Russen rücken jeden Tag weiter im Donbass vor und wenn ihnen die Einnahme von Pokrowsk gelingt, bricht aller Wahrscheinlichkeit nach die gesamte ukrainische Front zusammen.
Die Dringlichkeit einer diplomatischen Lösung
Es ist also allerhöchste Zeit für vernünftige Entscheidungen, die sich an dieser Realität orientieren. Es muss zu einem sofortigen Waffenstillstand am derzeitigen Frontverlauf kommen und auf diesen wird sich Putin nur dann einlassen, wenn ihm lukrative Bedingungen in Aussicht gestellt werden. Das ist bitter, aber andere, für die Ukraine bessere Friedensaussichten hat man in Istanbul und im darauffolgenden Herbst eben leider leichtfertig verspielt.
Mögliche Kompromissangebote
Möglicherweise kann die Ukraine mit dem Faustpfand des eroberten Kurskgebietes einen Teil des Donbass zurückbekommen, viel gewichtiger wird jedoch die Frage einer NATO-Mitgliedschaft sein. Denn verzichtet die Ukraine auf diesen, so müsste sich Russland immerhin hinter die Linie des 26.2. 21 zurückziehen, selbstverständlich müsste die Ukraine dann auch weitere Sicherheitsgarantien bekommen. Auch Russland will seine Sanktionen loswerden und erneut normale Handelsbeziehungen zu Europa aufnehmen. Die Wiederinbetriebnahme von Nordstream 1 und zumindest eines Teils der russischen Gaslieferung könnte daher ebenfalls Verhandlungsmasse zugunsten der Ukraine sein.
Das passiert, wenn wir weiter keine Lösung finden
Es ist also keinesfalls so, als ob die westliche und ukrainische Seite im Augenblick nichts in die Waagschale zu legen hätten. Doch ihre Position wird von Tag zu Tag schwächer; und sollte Pokrowsk tatsächlich fallen, so gibt es für Putin keinen Grund mehr, weiter zu verhandeln: Er wird dann die gesamte Ostukraine bis zum Dnjepr einnehmen und weder Europa noch die USA werden ihn davon abhalten können.
Wo bleiben die professionellen Diplomaten?
Es ist deshalb für mich völlig unverständlich, dass nicht sofort verhandelt wird, jetzt, solange man noch einige Trümpfe in der Hand hat. Natürlich kann man die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht stoppen, weder jetzt noch nach einem etwaigen Waffenstillstand. Man könnte sogar die Androhung der Lieferung weitreichender Waffen an die Ukraine nützen, um zu einem Ende des Krieges zu kommen. Was es jetzt braucht, sind professionelle, geschickte Diplomaten, die die Dinge unideologisch angehen. Das deutsche Außenministerium ist dafür denkbar ungeeignet, aber auf uns hört man ohnehin schon lange nicht mehr.
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