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AutorenbildChristoph Fromm

Stalingrad - Wirklichkeit und Fiktion

Gedanken von Christoph Fromm, kontrastiert mit Original-Briefauszügen.

Stalingrad: Die vielleicht schrecklichste, monströseste, grausamste Schlacht der Weltgeschichte. Die Fakten sprechen für sich: Zwei Millionen Tote, Verwundete, Vermisste auf beiden Seiten. Von ca 500 000 Einwohnern lebten Ende 1942 nur noch 1515 in Stalingrad.

Hinter den Zahlen verbergen sich furchtbare Einzelschicksale, jedes ein Universum an Leid und Schmerz. Das Schlimmste in Stalingrad waren nicht die Toten, es waren die Verwundeten, die in kalten Kellern dahin Siechenden, für die es keine schmerzstillenden Medikamente, keine Nahrung, keinen Trost mehr gab. Es war der über drei Monate währende Endkampf, bei dem im Kessel zunehmend deutsche Soldaten aufeinander losgingen, bei der die Feldgendarmerie unerbittlich vorging, bei dem man sich gegenseitig erschoss für einen Bissen Brot. Es war die Zeit in der der deutsche Stab, zunehmend jeder Frontwirklichkeit entfremdet, eine sinnlose Ordnung aufrecht erhalten wollte, während im Kessel längst Ratten, Mäuse und Ledergürtel gegessen wurden, in der Wahnsinn und Kannibalismus an der Tagesordnung waren.

Diese Wirklichkeit ist lange, auch von deutschen Historikern, geleugnet worden. Es hat bis zur Wehrmachtsausstellung 1995 gedauert, bis man sich der Wirklichkeit in Stalingrad, sowie an der gesamten Ostfront, gestellt hat und es ist für mich eine traurige Ironie, dass es in meinem fiktionalen Roman mehr Wirklichkeit gibt als in manchen deutschen Geschichtsbüchern.

Verlust von Wirklichkeit – das ist ein sicheres Anzeichen totalitären Machtanspruchs. Hitler hat für sich in Anspruch genommen, eine antihistorische Ordnung zu erzwingen, indem er bewusst das Judentum als Rasse und nicht als Religionsgemeinschaft definiert hat. Die totalitären Islamisten verfolgen heute mit jedem Satz, mit jedem Propagandavideo dieselbe Strategie. Die radikale Verleugnung der bestehenden Wirklichkeit schafft eine neue – und meistens eine schreckliche. Aber es wäre zu einfach, die Flucht aus der Wirklichkeit ausschließlich an solchen Extrembeispielen festzumachen. Sie hat längst auch die heutigen westlichen Gesellschaften in Form zahlreicher Parallelwelten ergriffen. Die internationale Finanzwelt, das Internet, die Flucht in Fantasyfilme und -spiele hinterlassen eine Wirklichkeit, die zunehmend nur noch mit Menschen stattfindet, die sich keine Flucht leisten können – aber es wäre ein fataler Trugschluss zu glauben, dass die Wirklichkeit nur noch für die Armen da ist – sie wird uns alle gnadenlos einholen.

Ich habe neulich ein sogenanntes Ego Shooter Spiel entdeckt, das in den Kulissen von Stalingrad stattfindet und seinen Usern wegen ausgesprochen realistischem Content und einem angeblich detailgetreuen Look angepriesen wird: Es ist in jeder Hinsicht eine verantwortungslose Comicvariante und das Furchtbare ist, dass es junge Menschen gibt, die tatsächlich glauben, hierbei handele es sich um die Realität von Stalingrad.

Worauf will ich hinaus? Wir tun uns heute leicht damit, von der Verblendung, der Wirklichkeitsverleugnung der damaligen jungen Generation zu sprechen, die zweifellos stattgefunden hat, aber: Sind wir so viel besser, klüger, konsequenter geworden?

Fliehen wir nicht mit den aktuellen modernen technischen Möglichkeiten ebenso vor der Wirklichkeit, lassen uns verführen, täuschen, ablenken von Katastrophen, die unausweichlich näher rücken?

Oder liegt es einfach in der menschlichen Natur, das Schreckliche zu verdrängen und sich auch angesichts der drohenden Katastrophen, schlimmster Verbrechen, gegen die man sich ohnmächtig glaubt, in einen scheinbar harmlosen Alltag zurückzuziehen?

Ich möchte anhand einiger Briefauszüge eines jungen Stabsleutnants schildern, der von 1941 bis 45 an der Ostfront stationiert war, wie man damals schlimmste Kriegsgräuel verdrängt und versucht hat, einen erträglichen Alltag aufrecht zu erhalten. Er war der Verlobte meiner Mutter und wurde ab Februar 1945 vermisst. Die Briefe sind an sie gerichtet. Mir fiel auf, dass die Gedanken und auch die Sprache von einer Sehnsucht nach privatem Glück, Romantik, einem Rückzug ins Religiöse, Biedere, Unpolitische geprägt sind, wie man sie auch heute wieder innerhalb der Generation der 18 bis 30-jährigen antreffen kann.

Dieser junge Leutnant wurde zur Hauptfigur meines Romans über Stalingrad, dessen englische Übersetzung seit kurzem als Ebook vorliegt.


26.8.1942 Der Abschied von den Eltern ist mir wieder sehr schwer geworden und ich habe viel nachdenken müssen. Noch ist die Luft um mich her mir weh, dass ich wieder scheiden musste von dir und der Heimat. Unaufhaltsam rollen die Räder und die Heimgedanken verwischen sich mit den soldatischen. Es ist ein schmerzliches Streiten aber es kann ja gar nicht anders sein – der Krieg muss dann nur noch gelten. Die Gedanken über den Russlandkrieg waren mir heute wieder etwas schwärzlich angehaucht. Das tun sie zuweilen, besonders zweckmäßig ist´s aber nicht.

27.8.1942 Ich weiß, dass ich gefühlloser, stumpfer, unempfänglicher geworden bin....

1.9.1942 Dreieinviertel Tage dauerte die Reise. Samstag nachts in Kursk. Alles war wieder bekannt und vertraut, unverändert in seiner Merkwürdigkeit.

Besuch bei den „alten Tantchen".

(Deutsche, die Russen geheiratet hatten und kärglich lebten, eine hat ihn gemalt. Anm. C. Fromm)

Es ist mir schrecklich, dass die Leute unter dem Bolschewismus so litten und dass ihre Hoffnungen auf die Deutschen auch solche Enttäuschungen nach sich ziehen. Machtlos und beschämt stehen wir da.

Es ist nicht immer leicht, hier im Land seine Sache zu vertreten. Auch bei Baronese Buttler nicht....

(andere Russlanddeutsche, offensichtlich aristokratischer Herkunft...Anm C. Fromm)

Wir kamen zur politischen Lage und dachten, kombinierten und planten. Der Schwierigkeiten sind sehr viele – sie ist betrübt über die Verhältnisse der Rückwanderer – man schiebt sie hierhin und schickt sie dorthin. Hunderte von Kilometern und sie ziehen mit Sack und Pack und Kind und Kegel. Niemand will sie haben, die überflüssigen Esser, jeder schickt sie wieder fort. Man kann es fast verstehen, dass manche sich lieber erschießen lassen als den Befehl zur Räumung eines Dorfes zu befolgen, wie es in Ausnahmefällen vorgekommen sein soll. Dies Land kennt keine Gnade...

(Man muss diese Zeilen angesichts dessen, was wir über den Ausrottungskrieg der Wehrmacht heute wissen, auf sich wirken lassen. Ist es naiv, verlogen? Man muss letzteres annehmen. Und doch, der Tonfall...man muss vermuten, dass viele Wehrmachtsangehörige bis an den Rand der Schizophrenie verdrängt haben. Man schob die Schuld für die „schrecklichen Umstände" auf den erbarmungslosen Gegner, die Partisanen, das Land, die Umstände. Der Krieg war angeblich wie eine Naturgewalt über die Völker hereingebrochen und man tat „sein Bestes"...Anm. C. Fromm)

Die Abteilung gefunden! Wir saßen lang in die Nacht hinein bei frohen Gesprächen zusammen. Und dann schlief ich also wieder zum ersten Mal im großen Zelt. Herrlich zum Wohlfühlen war das wieder – genauso schön, wie wenn man sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in ein deutsches Bett legt. So verdreht wird man: das Außergewöhnliche wird das Normale. Hier wird gerade fest für den Winter vorgesorgt: Überall werden Bunker gebaut, damit man gerüstet ist, wenn´s nass und kalt wird...

(Da war der Verfasser bereits in der Nähe von Stalingrad und muss mitbekommen haben, dass in der Stadt die fürchterlichsten Kämpfe begonnen hatten. Bereits beim ersten Angriff der deutschen Luftwaffe kamen 80 000 Zivilisten ums Leben. Die Wolga war rot von Blut... Die zwei Sätze über den Bunkerbau machen einen im Angesicht dessen, was dann in Stalingrad passierte, fassungslos...Anm. C. Fromm)

Vertreter des Kommandeurs, der krank in der Heimat ist, ist Hauptmann Kiefer: lebhaft, anregend, interessant. Man sitzt am Abend von sieben bis zehn im Zelt beisammen. Es ist schon sehr kalt und finstere Nacht. Man heizt mit einem „Primus" einem Benzinkocher. Um zehn Uhr wird das Radio eingeschaltet, das Stroh aus der Ecke geholt, die Deckenbündel von draußen zum Nachtlager. Der Adjutant hat die Kerze zu löschen und bedient sich dazu eines Stocks, mit dem er sie im Liegen ausschlägt...

(Das hört sich beinahe an wie ein Pfadfinderausflug und aus der Stimmung heraus ist es auch geschrieben. Man hat die Schrecken des Krieges, wann immer das möglich war, völlig verdrängt. Und man wollte natürlich die Lieben in der Heimat nicht ängstigen, mal ganz abgesehen von der Zensur. Die Briefe an die Verlobte haben oft den Tonfall eines netten Reiseberichts...Anm C. Fromm)

6.9.1942 Charkow, Ortskommandantur. Gestern sind wir mit meinem Mercedes hierher gefahren...ich habe mir den Gefreiten Otto mitgenommen, einen 33-jährigen Kaufmann aus Wiesbaden. Hohe Häuser, kleines Zimmerchen im 4. Stock Charkow hatte 800 000 Einwohner.

Die Losung heute heißt: Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle...ich bin so dankbar!

(Kein Gedanke, was aus den Einwohnermassen, die in Charkow mittlerweile fehlten, geworden war. Stattdessen Religion: Flucht in eine Parallelwelt der Liebe und Barmherzigkeit. Der Verfasser ist dankbar, dass ihm diese Flucht offenbar – noch – perfekt gelingt...In den letzten Kriegsjahren änderte sich das, und aus dem Christen, der Pfarrer werden wollte, wurde ein Berufsoffizier, der sich der SS nahe fühlte.

Man sollte nie vergessen: „Gott mit uns!" stand auf der Gürtelschnalle des deutschen Soldaten. Nicht wenige glaubten sich eins mit einem christlichen Gott im Kampf gegen die gottlosen Bolschewisten. Damit war jede Gräueltat gerechtfertigt. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?...Anm. C. Fromm)


10.9.1942 Heute habe ich das erste Kamel gesehen, vor einen Karren gespannt...Karpfen und Stör gab´s in der Feldküche, und eine Melone. Morgen komme ich in die Gegend von Stalingrad.

14.9.1942 Weite, weite, braunverbrannte Steppe, in leichten Wellen, mit kleinen Einschnitten, Wege kreuz und quer gefahren und Staub, Staub, Staub! Die paar Fahrzeuge des Stäbleins stehen in einer Geländefalte, ein paar Fahrzeuge, der Geschäftszimmeromnibus, zwei Lastwagen, vier Personenwagen, die Zelte – hier sind wir zuhause.

Die Losung heute ein großer Trost für uns Christenmenschen, wenn uns Angst sein will vor manchen Situationen. Alle Bedenkenhaftigkeit will uns fortgenommen werden. Wie bin ich froh! Geburtstag! Ein Strauß aus der Steppe, 25 Zigaretten, und die wehe Freude, trotz allem in die Kameradschaft gestellt zu sein.

(Christlicher Glaube und Kameradschaft. Zwei der Hauptantriebskräfte, die die Soldaten so lange durchhalten ließen...der weitverbreitete Glaube: Gott will es so und alles was geschieht, ist Gottes Wille, kam den Kriegsverbrechen der Nazis in fataler Weise entgegen. Es ist ein bis heute weit verbreiteter Irrglaube, dass das Christentum dem Nationalsozialismus in entscheidender Weise entgegen wirkte. In den allermeisten Fällen verbanden die Deutschen ihren christlichen Glauben an Gott mit einem nationalsozialistischen an den Führer. Der Führer war das Werkzeug Gottes, und natürlich tat Hitler alles, um die Deutschen in diesem Glauben zu bestärken. Seine Reden trieften von christlichen Anspielungen. Dass er nach dem erfolgreich beendeten Krieg das Christentum restlos entmachten wollte steht auf einem ganz anderen Blatt....Anm. C. Fromm)

20.9.1942 Ein Erdhaus haben wir bezogen, hier auf der Höhe...wir waren heute schon mal in Stalingrad, ziehen morgen dorthin über, um die Kommandantur zu übernehmen.

Wir wohnen am Stadtrand: Hauptmann Enno Bamberger, Oberleutnant Hasso Harms, Sonderführer Funk und ich. Der Schlager ist, dass wir jeden Abend zusammensitzen beim Kartenspiel...

Wir schauen ins Tal, wo die Eisenbahn läuft, auf ein reizendes Kirchlein im Dorfe Jelschanka. Im Osten qualmt die Stadt und im Südosten haben wir die unendlich ruhigen weichen Windungen inmitten von dunklen Wäldern und weißen Sandbänken von Mütterchen Wolga. Dies silbergraue Strömen dort, wie es uns lockt! Dort in den Niederungen beginnt wieder das Geheimnis des Ostens!

Die Weinstöcke vor unserem Haus tragen keine Früchte, sie sind seit Jahren nicht gepflegt. Was Wunder wäre es sonst, nach der Öde der Steppe! So sehen wir überhaupt nur Zerstörung. Was die Stadt uns bisher bot waren kleine Holzhäuser, fast keine ohne Beschädigung. Große Gebäude, Fabriken, meist ausgebrannt. Alles kann man ja noch nicht übersehen, das Ringen hält noch weiter an. Es ist sehr, sehr schwierig hier – umso beschämender, wenn man selbst untätig dabei steht!

(Zu diesem Zeitpunkt fielen jeden Tag bis zu 6000 deutsche Soldaten im Kampf um die Stadt, die Verluste der Sowjets waren noch höher...Anm C. Fromm)

26.9.1942 Bei Tage herrscht hier eine Bollenhitze bei dem ewig blauen Himmel, bei Nacht gibt´s Eis. In Russland ist nichts unmöglich!

30.9.1942 Gerade wieder unterwegs, wie immer: eine längere Strecke. Glühende Sonne bei Tage – Frost in der Nacht.

Am 26igsten abends ist die Nachricht von Hermanns Tod zu mir gelangt. (Sein Bruder, aktiver Fliegeroffizier...Anm C. Fromm)

Das Unabwendbare, womit wir durch Jahre schon rechnen mussten, ist doch nun sehr herb und schmerzlich. Gewiss war unsere Familie lange verschont, und wir sind dankbar dafür. Aber nun kann es uns auch nicht anders gehen als so vielen, auch wir haben aus unserer Familie heraus ein Opfer zu bringen. Und wir spüren nun das, was wir tausendmal an anderen geschehen sahen, am eigenen Leibe: ein Enkel, Sohn und Bruder ging aus unserem Hause fort, um niemals wiederzukehren. Wir können gar nicht nachfühlen, was ein solcher Verlust für die Eltern bedeutet...

Könntest du mir ein EK 1 besorgen? Ich habe meines verloren....

(Eine hochinteressante Stelle! Der Tod des eigenen Bruders ist ein unabwendbarer Schicksalsschlag. Nicht die Führung, nicht die Ursachen die zum Krieg führten, sind dafür verantwortlich. Es ist ein Opfer, das man bringen muss, für den Schicksalskampf, den die Bolschewisten uns aufgezwungen haben...Lange wurde ja die Mär verbreitet, Hitler sei mit einem Präventivschlag Stalin nur zuvor gekommen. Interessant finde ich auch, dass der Schmerz auf einer völlig abstrakten Ebene abgehandelt wird, es gibt keinerlei persönliche Verbindung zum Bruder. Sofort schreibt der Verfasser auch seinen abstrakten Schmerz klein, der Schmerz der Eltern sei ohnehin viel größer und man müsse ja dankbar sein (Gott!), dass man so lange verschont geblieben sei.

Dass er in der nächsten Zeile nach einem neuen EK 1 verlangt könnte man sich als Autor nicht besser ausdenken...Anm C. Fromm)

Wenn ihr noch mehr über die Entstehungsgeschichte von "Stalingrad: Die Einsamkeit vor dem Sterben" und Leutnant von Wetzland wissen wollt, schaut euch doch noch dieses Interview mit Christoph an!


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