- Überwachung im Dritten Reich
Ob man in einem bestimmten Moment überwacht wurde, konnte man nicht wissen – es war sogar möglich, dass jedermann immer überwacht wurde… Man musste unter der Voraussetzung leben, lebte so aus Gewöhnung, die zum Instinkt wurde, dass jeder Laut, den man von sich gab, überwacht, jede Bewegung überprüft wurde.
- George Orwell
Die Idee, einen parteieigenen Nachrichtendienst einzurichten stammte von Heinrich Himmler. Diese Idee führte zur Gründung des SD im Jahre 1931 und damit war der erste Baustein einer organisierten Überwachung durch den NS-Staat gelegt. Der SD wurde also eingerichtet, bevor die Nationalsozialisten überhaupt an der Macht waren und wurde von April bis Juni 1932 im Geheimen mit dem Decknamen „Presse- und Informationsdienst" (PI-Dienst) betrieben, da die SA und SS in diesem Zeitraum verboten war.
Im Sommer 1932 wurde der SD zu einer Sonderabteilung der SS erhoben und 1933 wurde zudem die Gestapo gegründet. Beide wurden durch den Etat des Reichsschatzmeisters der NSDAP finanziert. Der SD selbst war ursprünglich zur Bespitzelung anderer Staaten gedacht, doch 1935 wurde die Unterteilung in den Allgemeinen SD und den Nachrichten-SD vorgenommen, wobei letzterer für die Überwachung der eigenen Bevölkerung zuständig war. Die Leitung über diese Abteilung „Deutsche Lebensgebiete" übernahm ab 1939 Otto Ohlendorf.
Die Hauptaufgaben des SD lagen in der nachrichtendienstlichen Aufklärung, der Beobachtung von politischen Gegnern, Parteien und Strömungen der Überwachung und Bekämpfung oppositioneller Bewegungen und außerdem in der Unterstützung der Gestapo durch die Entlarvung von Staatsfeinden. Das Bedeutet, der SD übernahm die Vorarbeit, während die Gestapo für die exekutiven Maßnahmen zuständig war.
Die Besonderheit dieser Arbeitsteilung lag in der lückenlosen Zusammenarbeit der beiden Organe, die so eine Art Monopol bildeten und einer Trennung von Nachrichtendienst und Polizei entgegenwirkten, wodurch sich für den einzelnen Angeklagten quasi keine Möglichkeiten mehr boten, sich gegen ungerechtfertigte Anschuldigungen zur Wehr zu setzen.
Das ist natürlich eine besonders perfide Form der Überwachung mit der Heydrich eben auch schon jongliert hat. Man macht den Leuten Angst, sie könnten in jedem Moment überwacht werden und dadurch fangen die Leute an, sich selbst zu kontrollieren.
- Christoph Fromm in Stalingrad Podcast Folge 54
Für eine sogenannte „planmäßige polizeiliche Überwachung war in der Folge auch keine richterliche Genehmigung mehr nötig und Menschen, die mindestens dreimal zu einer Haftstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt worden waren, konnten verschiedene Überwachungsmaßnahmen auferlegt werden.
Beispielsweise wurde ihnen verboten, bei Nacht die Wohnung zu verlassen oder sie mussten sich regelmäßig einmal pro Woche bei der Kriminalpolizei melden. Jeder Wohnungswechsel musste innerhalb von 24 Stunden angezeigt werden und die jeweilige Stadt durfte nur mit Genehmigung verlassen werden. Auch Verbote, bestimmte Orte aufzusuchen oder Kontakt zu bestimmten Personen aufzunehmen waren häufig praktizierte Maßnahmen.
Die Beschäftigten der Gestapo steigerten sich von 4.000 Menschen 1935 (inklusive der Schreibkräfte) auf die 1944 beschäftigten 31.400 Mitarbeiter, zu denen noch die Männer des Sicherheitsdienstes der SS hinzukommen, wodurch sich eine Summe von in etwa 50.000 Personen ergibt. Anders formuliert dürfte der Überwachungsgrad durch ausschließlich offizielle Mitarbeiter im Deutschen Reich bei 1:10.000 gelegen haben.
Darüber hinaus gab es auch inoffizielle Mitarbeiter, die sogenannten V-Männer des Volksmeldedienstes. Dieser wurde ebenfalls von Reinhard Heydrich organisiert und lieferte besonders in ländlicheren Gebieten wichtige Informationen, da dort der Zugriff der Behörden stark eingeschränkt war.
Diese V-Männer stammten aus allen Gesellschaftsschichten und allen Altersgruppen. Sie arbeiteten ehrenamtlich und sehr gewissenhaft, da sie sich meist durch ihre Berichte höhere Karrierechancen erhofften. Da es in der Bevölkerung einen regelrechten Ansturm auf dieses inoffizielle Amt gab, wurden die Anforderungen zunehmend höher und Heydrich suchte gezielt „weltanschaulich kompromisslose" Männer, die intelligent und gleichzeitig radikal waren.
Es wurden ganz gezielt intelligente junge Männer gesucht. Überzeugte Nazis - knallhart, eiskalt, gehorsam.
- Christoph Fromm in Stalingrad Podcast Folge 54
Interessanterweise vertraten die Nationalsozialisten kein Ideal der absoluten Denunziation. Denunziation aus den falschen Motiven war vielmehr verpönt und häufig fiel das Sprichwort: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant". Vielmehr förderte Heydrich die Denunziation aus Motiven des „gesunden Volksempfindens" heraus, das zu einer Mitgestaltung am neuen Reich führen sollte.
Da viele Menschen dennoch ihre Chance nutzten, beispielsweise einem unliebsamen Nachbarn etwas anzuhängen, sah sich Heydrich schon bald gezwungen, gegen die Lumen des Landes vorzugehen, indem er folgenden Erlass verabschiedete:
Gegen Denunzianten, die aus persönlichen Gründen ungerechtfertigte oder übertriebene Anzeigen gegen Volksgenossen erstatten, ist an Ort und Stelle in geeigneter Weise – durch eindringliche Verwarnung und in böswilligen Fällen durch Verbringung in ein Konzentrationslager – einzuschreiten.
- Erlass Reinhard Heydrichs vom 3. September 1939
Durch diese Möglichkeit, anderen Menschen erhebliche Schwierigkeiten bereiten zu können, ohne dass diese irgendeine Aktion getätigt hätten, wurden prinzipiell alle Menschen, sowohl Fremde als auch Personen des privaten Umfelds, zu objektiven Gegnern und der Einzelne wurde immer einsamer.
Zwischen 1943 und 1944 ist ein Höhepunkt in den eingegangenen Anzeigen nachweisbar, der mit dem sogenannten „Rundfunkverbrechen" zusammenhängt, also dem Verbot nichtdeutsche Sender zu hören. Hierbei erhielt der Beschuldigte, der auf nichtdeutschen Sendern ausschließlich Musik gehört hatte lediglich eine Verwarnung, wohingegen aber das Hören von Reden mit Zuchthaus oder Gefängnis und Einziehen des Radios geahndet wurde.
In einigen Fällen wurde auch die Todesstrafe verhängt. Monatlich wurden zu dieser Zeit wohl zwischen 200 und 440 Personen wegen Abhörens feindlicher Rundfunkpropaganda festgenommen, wobei nur in etwa 10 % der Fälle die Denunzierten nach einer mehrtägigen Gestapohaft entlassen wurden.
Das nationalsozialistische Deutschland nahm 1933 und 1939 ein ähnliches statistisches Projekt in Angriff, bediente sich jedoch der Unterstützung durch Computertechnik. Zur Durchführung der Volkszählung tat sich das Reich mit der DEHOMAG, einer deutschen Tochtergesellschaft des amerikanischen Unternehmens IBM zusammen, die das Patent für die Tabelliermaschine besaß, einer Art Analogrechner, der Löcher in Lochkarten zählte.
- Edward Snowden in Permanent Record. Meine Geschichte.
Die von Edward Snowden erwähnten technischen Möglichkeiten der Nationalsozialisten waren größer, als man vermuten würde. Die wenigsten Menschen wissen, dass der erste Computer im Dritten Reich erfunden wurde. In Berlin gelang es 1941 dem Ingenieur Konrad Zuse in Zusammenarbeit mit dem Fernmeldefachmann Helmut Schreyer den ersten funktionsfähigen Digitalrechner der Welt zu bauen.
Dieser erhielt den Namen Z3 und wies bereits viele Merkmale von modernen Rechnern auf. Er verwendete ein binäres Zahlensystem, beherrschte die Gleitkommazahlenberechnung, hatte Ein- und Ausgabegeräte sowie die Möglichkeit der Benutzerinteraktion während des Rechenvorgangs. Auch verwendete die Z3 Mikroprogramme, arbeitete mit numerischen Sonderwerten und ermöglichte die parallele Ausführung von mehreren Operationen. Zuse erhielt 25.000 Reichsmark, um die Z3 zu verwirklichen und maß seiner Erfindung großen Wert bei.
So schrieb er 1941, als er kurzzeitig eingezogen wurde, an einen Freund: „Andere lassen die Familie zurück, ich die Z3.“ Für Konrad Zuse war es also ein besonders harter Schlag, als die Z3 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, gerade auch in Hinblick auf seine Reputation, da er so keinen Beweis liefern konnte, dass die Z3 jemals funktioniert hatte. Ein funktionsfähiger Nachbau der Z3, der 1962 zu Ausstellungszwecken angefertigt wurde, befindet sich heute im Deutschen Museum in München.
Eine zentrale Rolle im Überwachungssystem des Nationalsozialismus spielte der sogenannte Blockleiter, der im Volksmund häufig als „Blockwart" bekannt ist. Auch dieses Amt war ehrenamtlich, jedoch von der Partei organisiert, sodass der Betreffende zu dienstlichen Anlässen in Parteiuniform antreten sollte. Die Voraussetzung, um dieses Amt zu bekleiden, war ein Nachweis der eigenen arischen Abstammung bis ins Jahr 1800 und eine Vereidigung auf Adolf Hitler.
Ein Blockleiter war durchschnittlich für 40-60 Haushalte zuständig, also umgerechnet für etwa 170 Personen. Die Bezeichnung „Blockwart" stammt aus den Städten, wo diese 40-60 Haushalte in der Regel einen Häuserblock umfassten. Dahingegen waren die Blockleiter auf dem Land für mehrere Bauernhöfe, Betriebe und Arbeitshäuser zuständig.
Sein Aufgabengebiet war sehr umfangreich. „Der Hoheitsträger muss sich um alles kümmern. Er muss alles erfahren. Er muss sich überall einschalten.“
Das bedeutet konkret, ein Blockwart sollte für die nationalsozialistische Verbände (also beispielsweise für die HJ oder den BDM) werben, er musste völkisches Schulungsmaterial ausgeben und die Beiträge für die Verbände kassieren. Darüber hinaus musste er für das Winterhilfswerk und den sogenannten Eintopfsonntag sammeln und nahm die Rolle des Vermittlers für die Volkswohlfahrt ein.
Eine bis heute weitaus bekanntere Aufgabe war die Durchsetzung aller geltenden Vorschriften für Juden, das Auflisten alles jüdischen Besitzes und das Melden von „Judenfreunden". Im Krieg verteilte der Blockwart die Lebensmittelkarten, sorgte für das Entrümpeln der Dachböden und das Einhalten der Verdunklungsregeln im Rahmen des Luftschutzes.
Außerdem führte er meist eine Kartei zur politischen Überwachung, in der er sich beispielsweise Unmutsäußerungen oder das Verhalten einzelner Familien bei der Beflaggung notierte. Dort vermerkte er auch, welche Haushalte den „Völkischen Beobachter" bezogen oder wer einen Volksempfänger und eine Hakenkreuzflagge besaß, bevor Letzteres Pflicht wurde. Darüber hinaus gab er Leumundszeugnisse ab, nahm allgegenwärtig die Denunziationen anderer entgegen.
In der Mitte des Jahres 1941 erhielten die Blockleiter den Auftrag, sämtliche Wohnungen aufzusuchen und an den Rundfunkgeräten eine Karte anzubringen, die folgende Warnung enthielt: „Das Abhören ausländischer Sender ist ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres Volkes. Es wird auf Befehl des Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet. Denke daran!“
1935 schätzt man die Zahl der Blockleiter auf gut 200.000, wobei es sich zusammen mit den ehrenamtlichen Helfern, auf die ein Blockwart zurückgreifen konnte, um annähernd 500.000 Funktionäre handelte. Die Zahlen stiegen weiterhin, beispielsweise durch den Ausbau der Luftschutz-Organisation, rapide an und vervierfachten sich allein bis zum Beginn des Krieges.
Also man sieht, dass die Nazis im Grunde das noch mit menschlichen Quellen geschaffen haben, was man heute natürlich ganz leicht und sogar noch viel intensiver über moderne Digital- und Computertechnik erreicht.
- Christoph Fromm in Stalingrad Podcast Folge 54
Selbstüberwachung bedeutet in anderen Worten, die eigenen Aussagen und Handlungen, ja das eigene Denken und Empfinden zu kontrollieren. Sie erwächst in einigen Situationen aus dem Bedürfnis nach sozialer Angemessenheit der Darstellung der eigenen Person, dem Streben nach sozialer Anerkennung und dem Vermeiden von Missbilligung durch Dritte. Zudem spielt in der Selbstüberwachung aus politischen Gründen die Angst vor einer Bestrafung eine große Rolle. Diese Komponenten prägen Überwachung bis heute.
Im Inneren der Wohnung von jedermann konnte das Dritte Reich keinen Sicherheitsapparat einbauen, aber es konnte profitieren von der Furcht davor, die es im Inneren von jedermann eingebaut hatte, der anfing, sich sozusagen selbst zu terrorisieren, sich hinter seinem eigenen Rücken zum freiwilligen Mitarbeiter des systematischen Terrors zu machen, indem er ihn sich noch systematischer ausdachte, als er war.
- Charlotte Berandt in Das Dritte Reich des Traums, S.38-39.
Quellen:
Snowden, Edward: Permanent Record. Meine Geschichte. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2019. Berandt, Charlotte: Das Dritte Reich des Traums. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016.
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