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Weihnachten in Stalingrad

Der 24.12.1942 war auch für die in Stalingrad eingeschlossenen Soldaten ein besonderer Tag. Einige versuchten mit karg en Zweigen und aus Patronenhülsen gebasteltem Weihnachtsschmuck einen Hauch von weihnachtlicher Atmosphäre herbeizuzaubern, andere sangen Weihnachtslieder, viele dachten an ihre Lieben in der Heimat. Es gab aber auch zunehmend Soldaten wie Gross, die längst jede Hoffnung begraben hatten, die den Krieg hassten, aber nur noch in ihm existieren konnten. Von Gross ist die folgende Weihnachtsgeschichte:

»Ihr kriegt eure Weihnachtsgeschichte, ob ihr wollt oder nicht. Keine Angst, es ist eine echte Weihnachtsgeschichte, ergreifend und traurig.« Gross wiegte langsam den Kopf. Dann begann er: »Vor genau einem Jahr war ich das letzte Mal zu Hause. Weihnachtsurlaub, weil ich drei Panzer geknackt hatte. Meine Frau und meine Kinder standen wartend am Bahnhof – und waren mir fremder als jedes russische Frontschwein ...« Er brach ab, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider und murmelte: »An dieser Stelle weine ich jedes Mal.« »Wirklich rührend«, sagte Rollo. Lächelnd hob Gross den Kopf. »Meine Frau hat versucht, mich zu verstehen, zärtlich zu sein. Es war dasselbe Zimmer, dasselbe Bett, dieselben Kopfkissenbezüge, gelb mit roten Blumen. Ich hatte mich drauf gefreut, das könnt ihr mir glauben! Eine Menge großer Gefühle hatte ich, aber dann war plötzlich alles weg. Ich hab's nicht ertragen. Und je mehr Verständnis sie hatte, umso mehr hab ich sie gehasst. Ich bin abgehauen, hab mich besoffen, das hat mir damals noch was gebracht.« Er lachte. »Dann bin ich auch noch in der Christmette gelandet. Früher war ich auch mal fromm. Nicht viel, man hat eben an das Gute im Menschen geglaubt. Weihnachten war ich immer in der Kirche, schon wegen der Kinder. Als ich jetzt die Leute vor dem blutenden Jesus am Kreuz knien sah«, er runzelte bei der Erinnerung grübelnd die Stirn, »hab ich plötzlich begriffen, dass all diese Idioten mit schuld daran sind, dass man etwas Edles, Großartiges aus dem Leid machen kann, aus dem elenden Verrecken ... Verzeihung, sollte ja keine Predigt werden. Auf jeden Fall hatte ich plötzlich meine Knarre in der Hand und hab Jesus den Kopf weggeschossen.« Gross nickte ihm grinsend zu. »War 'ne schöne Schnitzarbeit, Gotik, fünfzehntes Jahrhundert. Meine Frau hat jedenfalls nichts dagegen gehabt, dass ich am nächsten Tag zurückgefahren bin. Kam gerade rechtzeitig zu 'ner neuen russischen Großoffensive. War ich wieder zu Hause.«

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