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AutorenbildChristoph Fromm

Am Anfang war das Wort – und am Ende?

Wir werden unserer Sprache beraubt. Beraubt ist nicht das richtige Wort. Wir entäußern uns bereitwilligst unserer Sprache, als würden wir ein lästig gewordenes, schlecht sitzendes Kleidungsstück von uns schleudern; wir verkaufen unser Seelenleben für ein paar Emojis. Dagegen war Jakobs Linsensuppe für Esaus Erstgeburtsrecht ein fabelhaftes Geschäft.


Wahrscheinlich haben wir Liebeserklärungen, ausgedrückt in mathematischen Formeln, zu erwarten. (Und angesichts mancher zeitgenössischer Schlager- und Rapptexte ist das vielleicht sogar ein Segen). Unser Innenleben wird auf Algorithmen reduziert. Wir werden den Androiden immer ähnlicher, von denen wir hoffen, sie bald produzieren zu können. Wozu eigentlich noch? Um die Dummheit und Ideenlosigkeit unsterblich zu machen? Ist die SMS Verknappung „Hase" für „habe Sehnsucht" von einer KI überhaupt noch zu unterbieten? Ich glaube nicht. Unser Gefasel über „Authentizität" und „Nachhaltigkeit" wird begleitet von Begriffen, wie „Leidenschaft", „Liebe" und „Hingabe" in Werbespots für Autos und Bankaktien. Möglicherweise werden unsere Nachfahren in nicht allzu ferner Zeit feststellen, dass Androiden die netteren Menschen sind. Vielleicht auch sprachgewandter. Viel wird nicht dazugehören. Wir lassen seit über zwanzig Jahren unser Sprachvermögen von einer Flut leerer Bilder in Grund und Boden bombardieren. Im Film/Fernsehbereich hat das zu den immer gleichen kurzen Standardszenen mit den fast immer gleichen, möglichst knapp gehaltenen Standarddialogen geführt, die an emotionaler Plattheit und Ideenarmut kaum noch zu überbieten sind. Die Erkenntnis, dass komplexere Figuren sich nur durch längere Dialogszenen – am besten durch indirekt geführte Dialoge - ausdrücken lassen, dass solche Szenen durchaus mehrere Themen und Wendungen besitzen dürfen und Geschwindigkeitswechsel geradezu Voraussetzung für einen Spannungsaufbau sind, all diese Erkenntnisse sind längst unter einer Sturmflut steriler Bilder begraben. Denn natürlich genügt es längst nicht mehr, die Realität mit all ihren kleinen, optischen Unzulänglichkeiten abzufotografieren. Jedes Bild muss einer Bearbeitungsdiktatur unterworfen werden, die den Idealen der Werbeästhetik frönt. Leider ist auch Diktatur nicht das richtige Wort. Wir bekommen das, was wir wollen. Wir sind nicht nur verantwortlich für unsere beispiellose Sprachverarmung – ohne Anglizismen würden die meisten unserer jüngeren Mitbürger bei einem Grundwortschatz von unter hundert Wörtern landen – wir tragen auch die Schuld für die völlige Entwertung früher einmal tiefer Begriffe wie „Liebe", „Leidenschaft", „Sehnsucht" und „Hingabe". Unsere Begeisterung für Superlative weist eine fatale Verwandtschaft zur Sprache der Nationalsozialisten auf. Was steckt hinter diesem Wortgetöse, dass die ewig gleichen „geilen" Bilder wie ein monotoner Trommelwirbel begleitet? Dieselben Symptome, die sich fast immer hinter Imponiergehabe, Großmannssucht und übertriebener Selbstdarstellung verbergen: Angst, Unsicherheit und die lähmende Gewissheit, in keinster Weise mit den unausweichlich drohenden Katastrophen umgehen zu können. Die Menschen sind gegenüber Sprache zurecht so misstrauisch wie nie zuvor: Sie sind zu oft belogen worden und wissen längst, dass die Versicherung, ihnen diesmal schonungslos die ganze Wahrheit zu sagen, nur wieder eine erneute Lüge ist. Das beschränkt sich nicht auf die sogenannten großen Themen wie Klimawandel oder wirtschaftlicher Zusammenbruch. Diese Unsicherheit hat sich längst in den Intimbereich zwischenmenschlicher Beziehungen geschlichen und sorgt dort für wachsende Entfremdung. Nicht umsonst klammern sich viele junge Menschen an althergebrachte Rituale wie Verlobungsringe und kirchliches Heiraten in Weiß, um dann feststellen zu müssen, dass eben auch diese Rituale längst vermarktet und damit entwertet sind. Dasselbe gilt für politischen Widerstand. Im Gegensatz zu früher wird fast jeder Widerstand sofort umarmt, eingemeindet und vermarktet. Es gibt nur noch wenige, äußerst radikale Positionen, die davon nicht betroffen sind. Es ist fatal, aber psychologisch nachvollziehbar, warum sich manche Menschen in genau diese Positionen flüchten. Am Anfang war das Wort – müssen wir eine neue Sprache erfinden? Wir müssen unsere Sprache und unsere Handlungen wieder in einen glaubwürdigen Zusammenhang bringen. Sprache wird erst dann wieder etwas wert sein, wenn unsere Handlungen etwas wert sind.

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