Hinter dieser enorm aufgeheizten, in wichtige und unwichtige Richtungen mäandernden Debatte steht im Kern das Auseinanderleben der Geschlechter.
Dieser Prozess hat eingesetzt, seitdem zur Fortpflanzung die sexuelle Vereinigung nicht mehr zwingend notwendig ist. Das ist weder zu begrüßen noch zu beklagen, es ist ein unaufhaltsamer Schritt der Evolution. Unbestreitbar haben die gleichgeschlechtlichen Beziehungen in den letzten Jahren enorm zugenommen und möglicherweise wird in zehn Jahren in westlichen Gesellschaften die heterosexuelle Beziehung nur noch eine, hoffentlich gleichberechtigte Spielart, im Rahmen von gleichgeschlechtlichen oder asexuellen Beziehungen sein. Viele Frauen sind nicht nur sozial unabhängiger, sie sind es auch in ihrer sexuellen Ausrichtung. Dies hat meiner Meinung nach überhaupt erst den Spielraum für diese Debatte ermöglicht. Es ist bereits verschiedentlich gesagt worden und man kann es nicht oft genug wiederholen: Sexueller Missbrauch ist ein schweres Verbrechen, an dem die Opfer ihr Leben lang zu leiden haben. Ebenso ist aber zu befürchten, dass sich die Täter, die meistens unter erheblichen psychischen Störungen leiden und nicht selten selbst Opfer eines Missbrauchs waren, durch keine Debatte dieser Welt von ihrem schändlichen Tun abhalten lassen. Hier helfen nur scharfe Gesetze und ein gesundes Misstrauen der potenziellen Opfer. In einer Situation physischer Gewalt ist der körperlich Schwächere unterlegen und das sollte sich jede Frau klarmachen, bevor sie zu jemandem ins Auto steigt oder zum Vorsprechen in ein Hotelzimmer geht. Hinterher wird immer Aussage gegen Aussage stehen und die Beweislage wird immer schwierig sein. Etwas grundsätzlich anderes ist für mich sexuelle Belästigung, und ich will damit keineswegs in Frage stellen, dass es enorm wichtig ist, ein öffentliches, kritisches Bewusstsein für alltäglichen Sexismus zu schaffen, aber ganz so einfach, wie in manchen Beiträgen behauptet wird, ist die Definition des Erlaubten oder gar Gewünschten nicht. Was eine Akademikerin als justiziable Belästigung einstuft, kann bei einer nicht zur Bildungselite gehörenden Teenagerin ein durchaus zielführender Flirt sein. Ein Beispiel: Tatort, Marktplatz einer schwäbischen Kleinstadt. Auf ein hingeworfenes „He, Fotze, willst du ficken?" reagierte die Angesprochene nicht mit Ablehnung, sondern tatsächlich mit der Antwort: „Wie, ehrlich jetzt?" Es ist nicht auszuschließen, dass diese Anmache zum Geschlechtsverkehr führte. Tragisch an der Situation ist, dass auf beiden Seiten jedes Gespür für Belästigung offensichtlich fehlt. Machtmissbrauch, und um nichts anderes geht es hier, hat sehr viel mit fehlender Bildung, fehlendem Selbstbewusstsein und mit unzureichenden sozialen Strukturen zu tun. Wie inzwischen hinlänglich bekannt sein dürfte, hat sich die Debatte gerade auch durch Vorfälle in der Filmbranche aufgeheizt. Wer, wie fast alle im Filmgeschäft, freiberuflich unterwegs ist, jederzeit gefeuert werden und auf schwarzen Listen landen kann, wird sich fünfmal überlegen, gegen einen angesagten Regisseur oder eine angesagte Regisseurin vorzugehen. Das führt zu einer weiteren unangenehmen Wahrheit: Es ist eine absolute Schimäre, dass Frauen in Spitzenpositionen sich weniger selbstherrlich, egoistisch und menschenverachtend verhalten wie ihre männlichen Kollegen. Wer das nicht glaubt, sollte sich mal inkognito ins Team einiger bekannter Regisseurinnen begeben, oder noch besser, in eine weiblich dominierte Drehbuchbesprechung. Die Fernsehspielchefin, die den jungen Ausstatter fristlos feuert, weil der einen ihrer Meinung nach falschen Teppich ausgelegt hat, gibt es genauso wie den Regisseur, der den Beleuchter arbeitslos macht, weil der in der Hektik den Doktortitel vor dem Namen des Regiewunders vergessen hat. Auch das ist Missbrauch, Missbrauch von sozialen Abhängigkeiten. Allen Filmschaffenden sollte zu denken geben, dass offensichtlich überdurchschnittlich viele Menschen, die Missbrauchsbiografien haben, in diesem Geschäft landen. Es ist eine traurige Wahrheit, dass traumatisierte Opfer sich ohne psychologische Behandlung nicht aus ihren Kindheitstraumata befreien, sondern sich immer wieder mit der sie quälenden traumatischen Situation konfrontieren – nicht selten ein Leben lang. Die Film- und Fernsehindustrie mit ihrem gnadenlosen Kapitalismus, ihrem immer brutaler werdenden hire-and-fire-System, bietet sich für diese Menschen als unheilvolles Auffangbecken geradezu an. Erste wichtige Schritte in eine bessere Richtung wären hier nicht nur Beschwerdestellen, sondern vor allem bessere Anstellungsverhältnisse, und eine verbesserte Bezahlung. Mindestens genauso wichtig wäre aber, dass endlich wieder eine Kultur der selbstbewussten kritischen Diskussion zugelassen wird, sodass nicht jeder, der Kritik übt, mit Beschäftigungslosigkeit rechnen muss. Das Problem des Patriarchats ist im Kern ein kapitalistisches, sexuelle Übergriffe und die Ausbeutung von Menschen haben direkt etwas miteinander zu tun. Ziel müsste sein, dass sich Menschen beruflich und privat auf Augenhöhe begegnen und das würde nicht weniger als eine Revolutionierung der jetzigen Arbeitswelt bedeuten. Echte Mitsprache gibt es nur dort, wo jeder Mitarbeiter am Unternehmen beteiligt ist und seine Stimme gehört wird, wie unbequem sie auch sein mag. Stattdessen haben wir zunehmend prekäre Arbeitsverhältnisse und ein Klima des Duckmäusertums und der Angst. Karriere machen die Opportunisten, nicht die Begabten. Um nochmals auf das Beispiel der Filmbranche zurückzukehren würde das für den Berufstand der Drehbuchautoren bedeuten: Wenn nicht endlich eine schlagkräftige Gewerkschaft nach amerikanischem Vorbild wie die Writers Guild gegründet wird, wird sich das Trauerspiel der Demütigungen und Ausbeutungen weiter fortsetzen, und zwar vollkommen geschlechterunabhängig. Ehrlicherweise muss man sagen, dass auch diese Gewerkschaft sexuelle Übergriffe nicht verhindern konnte, aber man könnte eine solche Institution nutzen, um sich zu solidarisieren und gemeinsam gegen die Missstände vorzugehen. Vielleicht bringt uns ja der Gedanke, dass sexuelle und soziale Ausbeutung sich gegenseitig bedingen zu einer neuen, humaneren Gesellschaftsform.
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